Praxis für Menschen mit ihren Anliegen Brigitte Schnell

PRAXIS FÜR MENSCHEN

Schreiben

Herbst(im)laub

Das Herbstlaub fällt dicht und gelb, dicht und gelb. Obgleich das sicher sehr schön war, diese Farben und Formen, wie die Blätter zu Boden sanken, leise aber stetig, unaufhaltsam. An die Zeit erinnernd, die Vergänglichkeit …

 

Es war irgendwie eine Scheißzeit. Zum Joggen wurde es langsam zu kalt und man konnte noch nicht Skifahren. So ein Dazwischen. Vergänglichkeit und dieses „Dazwischen˝ hatten irgendwie etwas gemeinsam. Als würden sie einen ermahnen. Jedes einzelne Blättchen, das da so selig schwingend zu Boden schwebte, mit sich und der Welt im Reinen, einverstanden mit allem, grinste blöd, schien ihn zu verhöhnen, zu verspotten. „Sieh hin Emil: Wir können es. Es ist doch nicht so schwierig. Du musst dich lediglich einlassen in den Lauf der Natur, in Werden und Vergehen˝.

Es ist noch nicht so lange her, dass er diese Art von Herbst nicht mehr so mag. Dass es ihn aufstellt wenn seine Frau abgeklärten Blickes aus dem Fenster sieht und sagt: „Sieh nur Emil …wie sie fallen…!˝

Früher hatte er seine Frau in ähnlichen Situationen in den Arm genommen und irgendwie Passendes ergänzt. Heute lief ihm ein eisiger Schauer durch den Körper.

Er hätte ihr am liebsten den Mund verboten und die Läden geschlossen. Am helllichten Tag. Jawohl.

 

Sollte sie draußen bleiben die Vergänglichkeit mit ihrem ganzen überheblichen Habitus, dem erhobenen Zeigefinger, diesem ewig penetranten Vergangenheitsscheiß. Als ob er das nicht selbst wüsste, als ob es nötig wäre ihn darauf auch noch aufmerksam zu machen. Der Zyklus der Natur in seiner ewigen Aufdringlichkeit. Als müsste er persönlich darauf hingewiesen werden, dass die Zeit verging, viel zu schnell, dauernd und unaufhaltsam verging. Als würde er das nicht selbst merken, jeden Tag, mit jeder Faser seines Körpers.

Am liebsten wäre er auf den Mond gezogen, oder irgendwohin, wo man den Wechsel der Jahres-
zeiten nicht so krass miterleben musste. Vielleicht würde er seinen Lebensabend doch noch auf die Kanaren verlegen.

 

Lebensabend: das war auch so ein Wort. Sprach denn irgendwer einmal von einem Lebensmorgen oder einem Lebensmittag? Wieso fing man mit dem pathetischen Quatsch eigentlich immer erst an, wenn man ohnehin schon spürte was Thema war. Sollte das etwa helfen eine einfach nur grauenhafte Geschichte mit schönen Worten und irgendeinem Klimbim abzumildern. Ihn konnte man damit jedenfalls nicht beeindrucken. Das war klar.

 

In diesem Jahr hatten sie ihr zweites Enkelkind bekommen. Als neulich alte Freunde zum Abend-
essen da waren hatte seine Frau ausgiebig darüber parliert, wie unglaublich schön es doch sei, Großeltern zu werden. Sie sprach von neuen Welten, die sich eröffneten, von Kinderaugen und der Verantwortung, die wieder abgegeben werden könne. An dieser Stelle lachte sie immer auf die gleiche Art und er hätte sie töten können, töten in diesem Moment, seine eigene Frau, die er sicher über alles liebte.

Stattdessen lächelte er und bestätigte ihre Ausführungen mit geröteten Wangen, die so oft als Begeisterung fehlinterpretiert wurden. Seine Frau erörterte nun ausgiebig jede noch so banale Begebenheit, die sie beide mit ihren Enkeln erlebt hatten, und wie unsäglich der Opa geliebt würde. Wie der größere der beiden Kinder jetzt immer schon so niedlich „Obba, Obba″ sagen würde. Emil verschnürte es mit zunehmender Ausführung seiner Frau über diese Art Geschichten die Eingeweide.

Warum konnte er sich nicht freuen? Nicht so. Diesen Erwartungen nicht entsprechen?

 

Er spürte,  wie ihm übel wurde, entschuldigte sich vor der Runde und ging ins Badezimmer. Dort ließ er sich kaltes Wasser über Gesicht und Hände laufen.

Das kalte Wasser schien seine Wut zu kanalisieren. Als sammelte sie sich in seinem Inneren zu einem Strom gleich einem Band, das durch seinen Körper flitzte. In affenartiger Geschwindigkeit. Er versuchte seine ganze Aufmerksamkeit auf dieses Band zu lenken, es zu zentrieren. Am leichtesten gelang ihm das im Genitalbereich. Da hatte sie Platz, die Wut. Das war ihr Bereich. Da durfte sie sein. Hier wurde sie lebendig, wurde Lebenskraft. Er dachte an Sabine, seine neue Sprechstundenhilfe. Sie war sehr schlank mit vollen Brüsten und an einer schönen Karriere interessiert. Man musste sich zu helfen wissen. Was war schon dabei? Schließlich benutzten sie sich gegenseitig. Es amüsierte ihn, dass sie glaubte ihn um den Finger wickeln zu können. Ihm etwas vorzumachen. Ihr musste sehr an dieser Karriere gelegen sein, denn sie gab wirklich das Kätzchen im Bett. Dinge wie Vergänglichkeit kannte sie bisher wohl nur vom Hören-Sagen und bildete sich ein, sie hätte ihn im Griff. Bildete sich ein, sie könnte sich aus dem Umstand, dass das Alter bei ihm möglicherweise schon eine Rolle spielte einen persönlichen Vorteil verschaffen. Bildete sich doch tatsächlich ein sie hätte ein Recht festzustellen, was mit ihm ist, und sich daraus einen Vorteil zu verschaffen.

Na gut, den sollte sie haben.

 

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, waren die Erzählungen seiner Frau gerade an der Stelle angelangt, wie der kleine Gabriel geschaut hatte, als er auf dem Spielplatz, den sie gemeinsam aufgesucht hatten aus Versehen einen sandigen Regenwurm im Mund hatte. Seine Frau schüttete sich aus vor Lachen, doch die Gäste wirkten zwischenzeitlich doch angestrengt und mahnten zum Aufbruch. Wie kurzweilig der Abend doch vergangen sei, sie hätten die Zeit gar nicht bemerkt. Komplimente an den Koch, Danksagungen, Regenschirme, Mäntel, Gummistiefel. Die Haustüre fiel ins Schloss und endlich war es still.

 

„Wie gut man sich doch mit Gabi und Horst unterhalten kann″, tönte seine Frau, während sie den Tisch abräumte und die Gläser in die Küche trug. „Ja, ganz wunderbar, ganz wunderbar,″ bestätigte Emil, bevor er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Er musste dringend telefonieren.