Praxis für Menschen mit ihren Anliegen Brigitte Schnell

PRAXIS FÜR MENSCHEN

Schreiben

Dem Selbst den Rücken

Monika fährt ärgerlich in die falsche Richtung. Sie hatte im Autobahnkreuz irgendeine Auffahrt genommen. Das war so wahnsinnig typisch für sie, so wahnsinnig typisch. Warum musste das immer ihr passieren? Es konnte nun doch wirklich nicht so schwierig sein, sich mal so weit zu konzentrieren, dass man eine verdammte Autobahnauffahrt erwischte, und zwar so, dass die Richtung dann auch stimmt.

Sie hörte die Stimme ihres Mannes: „Monika, pass auf dich auf, ja? Konzentrier dich.″ Er liebte sie und wollte sie beschützen, zumindest glaubte er das. Oder ging es ihm mehr ums Auto? Wer wusste das?

Sie kam direkt von einem dreitägigen Workshop mit dem Motto „Schlank, na und?″. Das verstand sie zwar nicht ganz, aber es hörte sich irgendwie so abstrakt an, so schick, so durchgeistigt, irgendwie originell. „Schlank, na und?″, anstatt „Dick, na und?″, wie man es in manchen Zeitschriften oft als Werbung für Übergrößen sah, was implizierte, dass man in jedem Fall zu seiner Figur stehen und damit auch glücklich sein kann. Dick und trotzdem glücklich, ein toller Gedanke. Zu sich zu stehen, unabhängig davon, wie man aussah. Und nun, sozusagen als Persiflage: „Schlank, na und?″. Eine Ohrfeige für alle, die immer ablästerten, wenn sie mal wieder eine Diät machte und mit dem Laufen begann. „Was willst du denn abnehmen? Es muss doch nicht jeder ein Strich sein. Du bist eben ein bisschen fester, na und? Das ist bei euch in der Familie. Deine Mutter war ja auch sehr stark.″

Stark anstatt dick.

Sie hatte gerade noch an den Coach gedacht. Diese Art Seminar- oder Workshopleiter nannte sich sehr oft „Coach″. Diesen Begriff kannte sie bisher eigentlich nur aus amerikanischen Fernsehserien aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, immer im Zusammenhang mit Baseball, oder wie all diese Spiele hießen. Möglicherweise war es auch Football oder Eishockey. Tätigkeiten, mittels derer man stark war, breitschultrig, rotbackig, apfelknackig, einfach so kompromisslos gesund. In denen junge, kräftige Zukunftsamerikaner mit sehr stabilen Frisuren und weißen Gebissen sich in einer Art „Shake-Hand″ begrüßten und zwar so, dass die Handflächen in einer Weise ineinander schnellten, als würde man sich fürs Armdrücken bereit machen. Zeitgleich kontaktierte man mit der noch freien Hand die Schulter des anderen Armes des Gegenübers und gab ein möglichst tiefes, gutturales Geräusch von sich. Diese Art wurde dann später als Rockergruß kultiviert und hat schließlich den Weg zu Emigrantengruppen in Brennpunkten größerer Städte gefunden.

Der Coach hieß Bud. In dem Flyer, den sie in ihrem Reformhaus zufällig entdeckt hatte, stand unter „Kontakt″ Hans-Werner Grubmüller, aber im richtigen Leben nannte er sich „Bud″. Bud war erst kurz aus Japan zurück. Dort hatte er geraume Zeit in einem Zen-Kloster verbracht. Er war ursprünglich eigentlich Koch, bevor er auf den spirituellen Weg kam, wie er es nannte. Er ernährte sich ausschließlich von Rohkost, die er mit einem Fleischermesser in einer affenartigen

Geschwindigkeit gekonnt und sicher zusammenhackte. Seine Blutwerte waren nahezu einzigartig.

„Keine Kohlenhydrate, die füttern nur deinen Krebs, aber nicht dich, wie all das Zuckerzeug. Ausreichend Vitamine und einen regelmäßigen Schlaf-Wachrhythmus mit Meditation, und laufen, laufen, laufen. Das ist der ganze Witz″, so Bud.

Monika war Pharmareferentin. Ein Leben im Auto zwischen Arztpraxen jeglicher Art. Vom Gyn über Hausärzte bis hin zur Psychiatrie. Diese Ausbildung hatte sie auf ihre Zahnarzthelferin gesetzt. Das war besser. So wie alles immer besser sein kann. Frisur, Figur, Blutdruck, Verdauung, Cholesterinspiegel, und eben auch die Ernährung. Monika war sehr blond und trug am liebsten Weiß. Manchmal auch kombiniert mit linden Frühlingsfarben. Das sah immer so frisch aus. Das war sehr wichtig in ihrem Job. Frische. Schon in ihrer Zeit als Arzthelferin war sie sehr beliebt mit ihrer netten, freundlichen Art, fröhlich und eben einfach so herrlich frisch. Sie erinnerte einen irgendwie fast an das Leben als Pfefferminzbonbon oder selbstreinigenden Zahnkaugummi, zuckerfrei, versteht sich, eigentlich die ganze Welt, zuckerfrei.

Sie trug immer ein leichtes Make-up mit etwas Rouge in Rosé oder Champagner und Lipgloss. Das machte sie so dezent, so weich, so überaus annehmbar, so gar nicht bedrohlich. Diese ihre Optik ließ die Vision eines Geruchs in einem aufsteigen, so etwas zwischen Schlüsselblümchen, Weichspüler, klein und gar nicht da. Eigentlich wäre sie sehr gerne in einem Wohnmobil gereist. Das hätte den Vorteil, dass man auch ein Bügelbrett mitnehmen könnte und nicht immer schon alles im Vorfeld fein säuberlich bereithalten musste. Aber allein, als Frau, in einem Wohnmobil unterwegs, das ging gar nicht. Wie sah denn das aus bei ihren Ärzten, würde sie da mit einem Wohnmobil vorfahren, also jetzt echt! Das hätte ihre Firma ja auch schon gar nicht geduldet.

Die hatte ihr einen A6-Kombi zur Verfügung gestellt, nachdem sie umsatztechnisch letztes

Quartal Siegerin war. Ein neues Auto und einen Wanderpokal. Sie war fast gestorben vor Scham, als ihr dieser vom Vertriebsleiter ihrer Firma überreicht wurde, neben dem frenetischen Applaus der Mitarbeiter. „Yeah″!

Das alles zog an ihrem geistigen Auge vorbei, als sie realisierte, dass sie noch immer in die falsche Richtung fuhr. Shit! Wie kam sie denn von dieser verdammten Autobahn wieder runter? Sie war müde und hatte ganz einfach Hunger. Irgendwo musste da doch noch so ein Müsliriegel sein. Im Handschuhfach? Sie lehnte sich hinüber, öffnete es und kramte darin herum. Was war das? Ein Schreck? Ein Knall? Ihr war als würde sie geschleudert. War das eine kleine Flugphase? Stand sie auf dem Kopf, oder wie? Eigentlich war sie einfach nur müde, wollte nach Hause oder nicht mal mehr das. Einfach nur schlafen, ein bisschen ausruhen. Ja, sie würde sich jetzt einfach ein bisschen ausruhen. Sie spürte, wie ihr irgendeine Flüssigkeit vom Kopf rann, es war wunderlich, aber so schön warm, ja schlafen...