Praxis für Menschen mit ihren Anliegen Brigitte Schnell

PRAXIS FÜR MENSCHEN

Schreiben

 

Die untergegangene Welt oder von
Schiffbruch und Inseldasein

 

Mick Jagger, der Nachlassverwalter, tritt ärgerlich gegen die Tür. Nein, er heißt nicht so, er sieht nur exakt so aus. Ausgerüstet mit derselben Erregbarkeit des verwöhnten Cholerikers neben einer Generalvollmacht. Magere Knie im Armanizwirn mit spitzen Schuhen bei nervös fliehender Gestalt. Immer am falschen Ort, weil Zeit doch Geld ist.

 

„Diese verdammte Tür mit diesem verflixten Schloss!"

 

Das Haus jedoch möchte jetzt gehen.

Es ist müde, erschöpft von den vielen Neubeginnen unseliger Art. Im Hof sucht sich allerlei Gewächs Platz zwischen dem Riesel, aber nicht kräftig, saftig, jung und trotzig, wie Unkraut wild nach oben strebend, sondern lahm, faulig, sterbend. Das Auto vor dem Haus war mal neu, sowie der Carport unter dem es steht. Ein Hinweis, dass hier mal gelebt wurde? Jetzt noch? In unserer Zeit? Ja, ging denn das?

Nein.

Es würde sich nicht mehr überreden lassen, weiter zu machen. Einmal musste Schluss sein.

Ein Entschluss, der dem Betrachter schmerzlich durch die Eingeweide fährt. Es ist in einem furchtbaren Zustand. Als würde es regelrecht in die Knie gehen wollen. Unendlich verlassen, hat es schon so viel gesehen, gehalten, gestanden, überstanden. Krieg, Generationswechsel und sonstigen Katastrophen hatte es sich gestellt, hatte sich größer gemacht und kleiner, gerne auch dicker oder dünner, neue Dachstühle und andere architektonische Zerwürfnisse mannigfaltiger Art tapfer hingenommen, selbst nach unten ließ es sich erweitern um mehr Platz für Dinge zu schaffen, Dinge der nichtbenötigten Art, Mahnmale immer und immer wieder untergegangener Welten, die nicht weggegeben werden konnten, weil sich sonst niemand mehr an sie hätte erinnern mögen.

Rückblicke an Übergriffigkeiten, die nach Ungeborenem gieren, um den Tod auszuschließen. Ein Tod, dessen Annahme Leben erst ermöglicht, ein Tod, der der Zeit ihr Werden zuträgt. Bereits Gewordenes, dem ein Weiter innewohnt, um sich zu vervollständigen, den Atem zu öffnen, die Flügel der Seele zu entfalten, auf seinem ureigensten, seinem wirklichen Weg, um schließlich zu werden, was es schon immer war.

Doch die Übergriffigkeit des Realen ins Ungeborene, die den Ungeborgenen, weil Unvollständigen, schafft, diese Übergriffigkeit in den formalen Zwang vor seiner Zeit, die den Ausschluss des Todes immer fordert, mehr und mehr sich ins Unendliche verbreitend, den Ursprung wieder und wieder kopierend und somit schwächer und schwächer werdend, jedes Lebendige, sich frei Entfaltende, Fließende negierend, diese manische Überhöhung schließlich weist dem Hörigen den sicheren Weg in seiner bedingungslosen Hingabe an die Weihe des Untergangs. Ein Untergang im Unvermeidlichen, weil Anfang und Ende, Leben und Tod nicht vorgesehen sind wo die Begrenztheit des Realen das Wirkende und somit das Wirkliche dominiert. Eine Beschränktheit, die sich selbst als Ausschließlichkeit ausruft, weil nicht sein kann, was nicht begriffen werden will.

 

„Diese verdammte Tür mit diesem verfickten Schloss!"

 

Der einzige Mensch, der sie spontan zu öffnen vermag, mit Gefühl, wie der immer gesagt hatte, mit viel Gefühl, ist tot. Die potentiellen Erben lehnen selbiges ab. Nun muss er sich wieder um den ganzen Scheiß kümmern, na toll! Wenn diese Tür sich jetzt nicht sofort öffnen lässt, wird er sie eintreten, Gott verdammte Scheiße noch mal!

 

Er zieht sein Handy aus der Tasche und informiert den Schlüsseldienst.

Dringend. Sofort. Ein Notfall. Noch nicht drin, und schon die erste Rechnung produziert. Verdammte Kacke. Wie sehr er das hasst. Diese Art von Moder und Fäulnis. Da hat irgend so ein Arsch sich tot gesoffen und der ganze Schrott bleibt wieder an ihm hängen.

Der soll früher mal angeblich ein Dichter oder irgendsowas gewesen sein, ein Schriftsteller, wie sich so einer ja heutzutage nennen darf. Schrieb irgendeinen völlig vergeistigten Schmarren, den kein Schwein kapiert und der deswegen eben nix einbringt, aber schon gar nix. Irgendwann fing der dann an, Selbstgespräche zu führen, und auf langen Spaziergängen laut mit sich selbst zu debattieren, ha, ha, doch, echt jetzt! Danach vergrub er sich in seinen Büchern und ließ irgendwann einfach keinen mehr rein.

Und dann verganten, und andere den Mist wegräumen lassen. Das sind mir die Richtigen. Von Verantwortung keine Spur. Da lässt er am besten gleich noch einen Container kommen für diesen ganzen Müll. Das wird seine Frau Grüner mit ihrem Kleinwagen alleine wohl nicht bewältigen können.

 

„Gott verdammt, Frau Grüner!"

 

Frau Grüner ist Mick Jaggers Assistentin, im Gegensatz zu ihm allerdings deutlich adipös und in einen Daunenmantel gehüllt, was sie wie ein Michelinmännchen wirken lässt. Sie trägt einen, gemessen an ihren restlichen Dimensionen, winzig wirkenden Rucksack, in dem sie immer den wichtigsten Proviant mit sich führt.

In diesem Fall bedeutet das: zwei Literflaschen Cola und ausreichend Zigaretten, die dem Herrn Nachlassverwalter, z. B. jetzt, zur Beruhigung gereicht werden müssen. Ein Schraubenzieher und ein Zylinderschloss, damit „mal klar ist, dass mir hier keiner mehr rein kommt, keiner mehr rein kommt", und eine große Dose Schaumgummi für sich selbst. An sein Auto gelehnt, versorgt sie ihren Chef nun wie eine überdimensionale Glucke, die sich um ihr zurückgebliebenes Küken bemüht.

 

Als der neue Herr über Eigentum und Zukunft eine halbe Flasche Cola auf Ex geleert hat und seine zweite Zigarette tief inhaliert, fährt der Schlüsseldienst in den Hof. Ein mittelalterliches Männchen. Drahtig wie ein Streifenhörnchen mit Bürstenhaarschnitt im knallroten Reklameoverall, macht er sich nebst Werkzeugkoffer und Bohrmaschine gleich fleißig auf in Richtung Türe. Der Nachlassverwalter und Frau Grüner folgen ihm. Dort angekommen jedoch wendet sich der Schlüsselmann plötzlich zackig um: „Scherzkeks, wie? Keine Brille auf, oder wollen Sie mich verarschen? Die Anfahrt bezahlen Sie auf jeden Fall und, nur damit das klar ist, die erste Viertelstunde auch. Denken Sie, ich hab sonst nichts zu tun?"

 

Die Tür steht offen.